Nachruf Siegfried Kettling

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Zum Gedenken an Siegfried Kettling (7.8.1937 - 11.4.2024)

„Gedenkt eurer Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt dem Beispiel ihres Glaubens. Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.“ (Hebr 13,7–8)

Siegfried Kettling war der große theologische Lehrer der Missionsschule von 1974-2002. Durch ihn wurde die Missionsschule in ganz Deutschland bekannt. Wir an der Schule wie in unserer Bruderschaft erinnern uns sehr gerne an ihn. Auch ich persönlich verdanke ihm sehr viel. In seinem Sinne fragen wir: „Wo ist zu beginnen?“ Die Antwort liegt von ihm her auf der Hand:

Er war ein Christenmensch
Vom Zentrum und Grund her, von der Rechtfertigung des Gottlosen sola gratia, solus Christus, sola fide her hat er es einmal so auf den Punkt gebracht: „… ich habe meinen Platz in Christus gefunden. Jetzt muß ich mir keine Position mehr schaffen oder erkämpfen, muß mich nicht mehr vor Gott und Menschen aufbauen, brauche mir keinen Namen mehr zu machen. Ich heiße ja »Christ« …“ (Typisch Evangelisch, S. 22) Das war seine tiefste Freude. Das hat er geglaubt, von daher hat er sich verstanden, und von daher wollte er sich auch verstanden wissen – gerade auch eschatologisch: „Bei Jesus werde ich endlich in Vollendung der sein, als den Gott mich gemeint hat. Dann wird der einmalige, unverwechselbare Gottesgedanke, den jeder von uns darstellt, endlich voll verwirklicht sein – vollendete »neue Kreatur«.“ (Du gibst mich nicht dem Tode preis, S. 125)

Er war ein begeisterter Prediger
Das Evangelium von der Gnade Gottes in Jesus Christus hat er mit Freude gepredigt, in immer neuen Variationen, sprachlich ansprechend gestaltet und frei gehalten. Selbst bei Predigtprüfungen fragte er danach, wie sich die Freude des Evangeliums in der Predigt ausspricht und niederschlägt. Da schlug sein Herz: „Alles möchte dies Eine reflektieren: »Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein‘ neuen Schein …«“ (Unter Gottes Regenbogen, S. 10) Auch nachdem Kettlings am 30. Januar 2002 nach Schwäbisch Gmünd auf den Schönblick gezogen sind, hat er dort im Gottesdienst regelmäßig mit Freude gepredigt.

Er war ein liebenswerter Christenmensch
Im Speisesaal, auf der Brücke, im Konferenzsaal, wo auch immer auf dem Missionsschulgelände oder in ihrer Wohnung – in ihm begegnete einem ein warmherziger und liebenswürdiger Mensch, mit köstlichem Humor und großem Interesse an Menschen. Unvergesslich, wie er nachgefragt hat, wie es einem ergeht oder wie sich etwas entwickelt hat. Ohne seine Frau Christa und seine Söhne Matthias, Jochen und Markus war er nicht zu denken, durch sie und mit ihnen ist er geworden, wer er war. Sie lebten auf dem Missionsschulgelände, teilten ihr Leben mit Mitarbeitenden und Studierenden. Schulgemeinschaft und Bruderschaft gehörten organisch zu ihrem Leben und zu seinem Lehrersein dazu, was auch in seinen Gebeten zu spüren war. Er tat uns gut. Von ihm und von Christa ging so viel Gutes aus.

Er war ein gebildeter Mensch
Seine Bibliothek umfasste viele Bücher in einem unglaublich breiten Spektrum. Auf seine ganz eigene Weise hat er seine Bücher unterstrichen, Inhalte markiert und Randnotizen gemacht. Er hat sie intensiv gelesen und verarbeitet: für sich selbst, für seinen Unterricht und für Vorträge. Bildende Kunst und vor allem klassische Musik waren ihm eine beständige Quelle der Freude. Für viele von uns ist es unvergesslich, wie er bei Weihnachtsfeiern im Speisesaal am Klavier „Tochter Zion, freue dich“ begleitet hat. Musik hat ihm sehr viel bedeutet, und er hat sie auch anderen in der Tiefe erschlossen, etwa in dem Buch „Herr, unser Herrscher. Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach theologisch und musikalisch erklärt“, zusammen mit Kirchenmusikdirektor Tzschoppe. (2002)

Er war ein angefochtener Mensch
Sein Glaube wurde immer wieder infrage gestellt. Eine schwere und lebensbedrohliche Dickdarmentzündung zwang ihn nach dem zweiten Semester zu einer einjährigen Unterbrechung des Studiums. Von einer „nicht heilenden Wunde“ sprach er im Blick auf den tödlichen Motorradunfall ihres Sohnes Matthias 1986. Es ist wohl auch nicht zufällig, dass er im Calwer Bibellexikon den Artikel „Zweifel“ geschrieben hat: „Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass die Rechtfertigung des Gottlosen auch die Dimension des Zweifels umgreift.“ (S. 1511). Wer ihn vor Vorträgen und Prüfungen erlebt hat, versteht, was er von sich selbst schreibt: „Aber seit der Erkrankung habe ich gesundheitlich immer auf ‚Sparflamme‘ mit körperlich wie nervlich gebremster Kraft leben müssen. Ich will glauben, dass auch dies ein Unterwegssein auf der ‚rechten Straße‘ war.“ (Im Rückblick auf sein Leben anlässlich seines 65. Geburtstags in „Gnade pur“, S. 13). Und schließlich auch seine fortschreitende Demenz in den vergangenen Jahren. In einem Gespräch sagte er zu mir: „Weißt du, ich bin auf nichts mehr aus, ich habe auf nichts mehr Lust, mich interessiert nichts mehr.“ Das hat ihm zugesetzt, daran hat er sehr gelitten.
Bei seiner Abschiedsrede am 26. Juni 2002 in Unterweissach hat er gesagt: „Wir müssen uns durch das Dunkel hindurch glauben, dahinter ist dennoch die Sonne. Wir müssen Gott, das ist unsere Schuldigkeit, aus dem Wirrsal der Welt herausglauben. Gott, mit Gott haben wir es zu tun. Wir müssen den neuen Himmel und die neue Erde vorweg glauben, und mit all dem sind wir in großen Spannungen.“ Das gilt trotz der ihm absolut zentralen reformatorischen Gewissheit des Glaubens, die seine Söhne in der Todesanzeige mit einem Zitat von ihm bewusst aufgenommen haben: „Er schaut Gott und weiß sich daheim, geborgen in den starken väterlichen Armen, an dem mütterlich liebenden Herzen.“ (Du gibst mich nicht dem Tode preis, S. 204, die letzte Seite)
Von Psalm 23 her und auf ihn bezogen schrieb er: "Wichtig ist mir geworden: Die Aussage »Er führet mich auf rechter Straße« ist nicht einfach ein Abziehbild glückhafter Erfahrungen, nicht platt ein Erfahrungs- und Erlebnissatz. Er ist im strengen Sinne Glaubensbekenntnis, damit stets auch ein Dennoch-Satz gegen das eigene Erleben, die eigenen Gefühle. Ein »Hindurch-Glauben« (Ratschow), ein »Heraus-Glauben« der sonnenhaften Liebe Gottes aus dem Erfahrungsdunkel, ein »Zusammen-Glauben« des im Weltgeschehen verborgenen Gottes mit dem Gott der Liebe, der in Jesus Christus offenbar ist." (Gnade pur, S. 14) Darum war ihm die Christologie so wichtig und so lieb. Nur so konnte er als angefochtener Christenmensch glauben.

Er war ein begnadeter Lehrer
Siegfried war von der Sache des Glaubens und der Theologie fasziniert. Er wollte verstehen, was er glaubt, und er wollte, dass andere den christlichen Glauben verstehen lernen: wie ein Glaubensinhalt mit anderen zusammenhängt, wie etwas begründet wird und welche Folgerungen sich ergeben, wie mit Einwänden und Zweifeln umgegangen werden kann usw. Bei ihm war biblische und reformatorische Theologie, seine pietistische Prägung und eine große Weite im Denken und Glauben befreiend und auf ganz eigene Weise miteinander verbunden. Er verarbeitete unzählig viele Bücher, er arbeitete exegetisch, systematisch-theologisch und philosophisch gründlich. Er unterrichtete vor allem Neues Testament und Systematische Theologie, aber auch Kirchengeschichte, Griechisch und Homiletik. In allem suchte er nach immer noch größerer Klarheit, gedanklich und sprachlich, er entwarf Skizzen und machte im Lehrsaal legendäre Tafelskizzen, die sein differenziertes Denken widerspiegelten. Er regte zum Nach- und Mitdenken an. Bei ihm flossen Literatur, Geschichte und Musik in vielfältiger Weise in den Unterricht ein. „Als 10-jähriger wusste ich genau: Du musst Lehrer werden! Das war mir eine unbezweifelbare, alternativlose Gewissheit.“ (Gnade pur, S. 9) Wie gut, dass er es geworden ist! Unzählige aus unserer Bruderschaft werden es ebenso sehen. „Manchmal verließen wir den Lehrsaal in dem Bewusstsein, etwas Großartiges erlebt zu haben.“ (Michael Lohrer, in: Gnade pur, S. 76)

Er war ein tiefgründiger Autor
Siegfried hat komplexe Sachverhalte so lange durchdacht, bis er sie genial elementarisieren konnte, – allerdings: ohne zu simplifizieren! In bewundernswerter Weise schaffte er es immer wieder, Sachverhalte gut verständlich und zugleich hochkomplex zu entfalten. Ein solches Meisterstück liegt m.E. vor in „Der Mensch – Gottes Geschöpf“, dem 1. Kapitel in „Wer bist du, Adam?“ (S. 7ff). Dem entspricht eine Skizze am Ende dieses Abschnitts: auf einer Seite bündelt sie viele Aspekte und führt ihren vielfältigen Zusammenhänge vor Augen (S. 28). Dieses Kapitel lasse ich bis heute alle Studierenden lesen. Noch viele andere Bücher von ihm müssten genannt werden, auf jeden Fall aber „Das Gewissen. Erfahrungen, Deutungen, biblisch-reformatorische Orientierung“ (1985) und „Du gibst mich nicht dem Tode preis. Biblisch-theologische Grundlegung und persönliche Erfahrung“ (1989). Es ging ihm in allem nicht einfach um gedankliche Reflexion auf hohem Niveau, nein, es ging ihm um den Vollzug des Glaubens und wie die gedankliche Klärung dazu hilft: „Es hängt unser Leben daran, daß wir hier die Lehre präzis fassen.“ (Typisch Evangelisch, S. 19) Darum lag ihm zeitlebens Theologie für Laien sehr am Herzen.

Er war ein gefragter Redner
Siegfried war in ganz Deutschland unterwegs: in Kirchen, Verbänden, freien Werken und vor allem im Raum des Gnadauer Verbands – er war seinerzeit der Theologe des Gnadauer Verbands. Theo Schneider, langjährige Generalsekretär des Gnadauer Verbands, schrieb uns vor einigen Tagen: „Er hat in den Achtziger- und im Anfang der Neunzigerjahre den landeskirchlichen Pietismus wesentlich geprägt – nicht durch Gremienarbeit, sondern durch seine theologische Arbeit und seine Verkündigung und in vielen Gesprächen. Das war »Gemeinde/Kirchenleitung« durch theologische Arbeit!“ Aber auch andere Veranstaltungsformate wie etwa das Christival, Abende und Seminare beim Offenen Abend Stuttgart, oder auch Pfarr- und Predigerkonferenzen waren ohne ihn nicht zu denken. Viele haben ihn auf diese Weise kennen und schätzen gelernt.

Er war Dr. theol. honoris causa
Am 2. November 2002 wurde ihm in Tübingen an der Theologischen Fakultät die Ehrendoktorwürde verliehen. Damit fand sein theologisches Lebenswerk eine sehr schöne Anerkennung und gebührende Würdigung auch im akademischen Raum. In der ihm eigenen Bescheidenheit sagte Siegfried am Ende seines Vortrags: „Ich habe etwas zu sagen versucht – nicht von dem, was ich getan habe, sondern allenfalls, worum ich mich mühte. Dass solches begrenzte Mühen heute anerkannt wird, erfüllt mich mit großer Freude und Dankbarkeit.“ (Alles Zufall, S. 175) Uns alle erfüllte damals und heute große Freude und Dankbarkeit angesichts dessen, was Gott uns und vielen anderen durch ihn geschenkt hat. Und damit ist auch der Weg zu dem gewiesen, womit aufzuhören ist:

Er war ein gesegneter Christenmensch
Er war trotz und in allen Begrenzungen, die er erlitten hat, ein unschätzbarer Segen für uns an der Missionsschule und in der Bahnauer Bruderschaft, und weit darüber hinaus. Möge Gott seinen Segen weiterwirken lassen, so wie er es selbst zur Sprache gebracht hat: „Dieser doppelt-eine Endzweck aller Lehre – Gottes Ehre zu mehren und den Menschen das Heil zu zeigen – bestimmt unser Theologietreiben, unser Predigen, all unser lehrhaftes »Über-setzen«. In diesem Sinn geschieht unser Tun »final«, dem ewigen Ziel entgegen.“ (Alles Zufall, S. 175) Möge Gott den Segen, den er Siegfried und vielen durch ihn gegeben hat, auch über sein irdisches Leben hinaus weiterwirken lassen. Jesus, der gute Hirte, begleite seine Söhne, Schwiegertöchter und Enkel wie auch uns selbst auf unserem Weg: er bleibt uns nah, ist für uns da.

Pfarrer Thomas Maier
Direktor Evang. Missionsschule Unterweissach